Anri Sala, Answer Me, 2008, Einkanal-HD-Video, Farbe, Stereoton, 4:51 min.
Chronopolitische Ansätze
Chronopolitische Ansätze stellen strategische Versuche dar, mit den Aporien der Zeit umzugehen und prägen nicht nur die künstlerische Praxis der Gegenwart, sondern erlangen zunehmend auch in kunstkritischen Diskursen Bedeutung. Sie eint eine Skepsis gegenüber jeglichem Anspruch historischer Geschlossenheit und Evidenz, weshalb sie chronologische Zusammenhänge als nicht-lineare Relationen exemplifizieren. Durch Wiederholung, Verschiebung oder Synchronisierung wird die Linearität der Zeit etwa in Video und Film hinterfragt. Insbesondere die künstlerische (Re-)Konstruktion geschichtlicher Ereignisse, sogenannte Reenactments, führen zu anachronistischen Überlagerungen von Vergangenheit und Gegenwart. Nicht zuletzt regen utopische Entwürfe dazu an, der Gegenwart für einen Augenblick den Rücken zu kehren und sich auf eine imaginäre Reise in die Zukunft zu begeben. Im Rahmen des Forschungsprojektes sollen solche zeitbezogene Strategien als Ausdruck einer Chronopolitik untersucht und hinsichtlich ihrer geschichtsbildenden Bedeutung befragt werden.
Darüber hinaus finden aber auch chronopolitische Ansätze Berücksichtigung, die sich keineswegs kunstimmanent beschreiben lassen, wie etwa Rückdatierungen. Sie ermöglichen es Künstlern nicht nur, einzelne Werke nachträglich in einen anderen geschichtlichen Kontext zu stellen und damit Einfluss auf deren Rezeption auszuüben. Zugleich bieten sie die Gelegenheit, die Chronologie im Œuvre insgesamt zu verrücken, indem beispielsweise das Schaffen ex post in Phasen eingeteilt wird, um eine bestimmte Form des Nachruhms anzustoßen. Durch die Analyse solcher Datierungsstrategien soll anschaulich gemacht werden, welchen Einfluss Rückdatierungen auf die Historiografie und ihre Geschichtsbilder ausüben, um vor diesem Hintergrund Ansätze für eine skeptisch gestimmte Datierungsforschung zu entwickeln.